Heilige, Narren und Liebende

Das Reich der Archetypen - universelle Energiestrukturen

Artikel von Anke Clausen


"Die Wahrheit kam nicht nackt zur Welt, sondern sie ist gekommen in Symbolen und Bildern. Die Welt kann sie nicht anders empfangen ... Der Bräutigam muss durch das Abbild eingehen in die Wahrheit."  (Philippus-Evangelium)

C.G. Jung kam aufgrund seiner Forschungsarbeit zu dem Schluss, dass eine Reihe von Symbolen nicht nur universelle Geltung besitzt, sondern dass die Symbolik auch eine wichtige Rolle in psychischen Prozessen spielt, die das menschliche Denken, Streben und Handeln beeinflussen. Jung gliederte die Struktur der menschlichen Psyche in vier Bereiche:

  • das Bewusstsein, das das vom Willen gesteuerte Denken und Handeln umfasst,
  • das dahinter stehende Vorbewusste, das alle geistigen Fähigkeiten und Erinnerungen enthält, die immer wieder willentlich ins Bewusstsein gerufen werden können,
  • das persönliche Unbewusste, in dem alle unsere persönlichen Erinnerungen, Erfahrungen und unterdrückten Sehnsüchte gespeichert sind, die uns nur in Träumen oder plötzlich auftauchenden Erinnerungen wieder bewusst werden und
  • das kollektive Unbewusste, wo sich aufgrund jahrtausendealter menschlicher Erfahrung und Entwicklung instinktive Denk- und Verhaltensmuster gebildet haben.


Psychische Gesundheit ist nach Jung dann gegeben, wenn sich der bewusste und der unbewusste Teil des Geistes in einem dynamischen Gleichgewicht befinden.

Zu der Ebene von Urbildern können wir keinen bewussten Zugang herstellen, sondern sie nur in der symbolischen Form der Archetypen entdecken und uns empfänglich machen für die transformativen Prozesse des Unbewussten, die es ermöglichen, dass der Sinn dieser Symbole für unser Leben in Ganzheit erkannt wird.

In unserer heutigen Welt zeigt sich ein großes Ungleichgewicht: der Erfolg von Wissenschaft und Technik und somit das rationale, gerichtete Denken ist beeindruckend, aber die weibliche Seite, das innere Erkennen, das, was Jung das "mythologische Denken" nennt, geht in diesem Prozess verloren. Meist haben wir nur in Träumen, Phantasien oder vagen Gefühlen überhaupt noch einen Kontakt mit dieser Ebene, wenn wir der Welt der Kindheit entwachsen. Märchen, Mythen und deren Bilder lassen wir meist hinter uns, wenn wir die Welt der Erwachsenen betreten. Wir haben vergessen, wie diese innere symbolische Ebene mit uns kommuniziert. Die Archetypen sind jedoch Teil des menschlichen Wesens, und unsere archetpyische innere Welt ist bedeutungsvoll für uns und unsere persönliche Entwicklung. Sie zeigt uns den Weg unserer Seele und nicht nur den unserer alltäglichen Wünsche und Sehnsüchte.

Zu den Archetypen, die das menschliche Denken, Fühlen und Verhalten am stärksten beeinflussen, gehören z.B. die Anima als das kollektive und universelle Bild der Frau, das im männlichen Unbewussten verankert ist sowie entsprechend der Animus, das kollektive Bild des Mannes im weiblichen Unbewussten. Mutter- und Vater-Archetyp gehören ebenso dazu wie der der Göttin, des Heiligen, des Narren, des Liebenden, der Hure, des Heilers, des Schattens... Der Schatten ist der eigenwillige Teil der menschlichen Natur, der unbewusste Teil, den wir nicht sehen möchten, der uns Angst macht und der in der westlichen Ethik als eindeutig böse betrachtet wird. Interessant ist hier vielleicht der alte Aberglaube, dass alle Menschen einen Schatten haben, nur der Teufel nicht. Nach außen projiziert, stellt der Schatten den Sündenbock, das wehrlose Opfer dar. Seine Macht über unser Leben verliert der Schatten nur, wenn wir es schaffen, ihn, das Unbewusste, bewusst zu machen, ihn als Teil von uns zu akzeptieren und soweit wie möglich zu integrieren. Das ist auch die Voraussetzung, um die positive Kraft zugänglich zu machen, die in diesem Archetyp des Schattens ebenfalls vorhanden ist.

Auch wenn diese Archetypen universelle psychische Muster und Energiestrukturen darstellen, werden sie durch individuelle Erfahrungen geformt und gestalten diese ihrerseits auch mit, haben also auch eine persönliche Form und Färbung.

Wenn wir unsere persönliche Beziehung zu den Archetypen aufbauen und die Sprache, die Symbole verstehen und mit ihnen arbeiten wollen, geht es darum, einen inneren Raum zu schaffen, der den Symbolen erlaubt, sich zu offenbaren und zu entfalten. Eine Haltung der Empfänglichkeit ist notwendig, ein Zusammenbringen der psychologischen und der spirituellen Ebene. Es gilt, eine Brücke zu schlagen zwischen der unbewussten Welt der Archetypen und dem Bewusstsein - spielerisch, Körper, Gefühl und Geist mit einbeziehend - und die Sprache dieser symbolischen Ebene wieder zu erlernen, ihren Bildern und Stimmungen gegenüber wach und aufmerksam zu werden. Es geht letztendlich nicht darum, etwas zu tun, sondern mit dem Herzen zu fühlen.

"Der Archetypus als das Bild eines Instinktes ist ein spirituelles Ziel, nach dem das gesamte Wesen des Menschen strebt; es ist das Meer, in das alle Flüsse fließen, der Preis, den der Held durch den Kampf mit dem Drachen erringt." (C. G. Jung)